4. Der überfüllte Wurzelkanal - Kapitelübersicht |
4. Der überfüllte Wurzelkanal |
4.1. Länge der Wurzelfüllung und Überfüllung |
Die als „ideal“ angestrebte apikale Aufbereitungs- und Füllungslänge bei der Wurzelkanalbehandlung sollte bis zur apikalen Konstriktion reichen, der engsten Stelle des Wurzelkanals, an der in der Regel auch das Wurzelzement in das Wurzeldentin und das Pulpagewebe in das apikale Mischgewebe übergeht (Foramen physiologicum) und wird je nach Quelle mit 1-2mm kürzer als der röntgenologische Apex beschrieben.[25][36][14][35]. Zähne mit überfüllten Wurzelkanälen zeigen in Langzeitstudien einen prognostisch ungünstigeren Verlauf und histologisch Entzündungszeichen mit verlangsamter Ausheilung und sind daher durch geeignete Aufbereitungs- und Fülltechniken nach Möglichkeit zu vermeiden.[25] Die apikale Konstriktion stimmt nur sehr selten mit dem röntgenologischen Apex überein[4] und Zähne mit Wurzelfüllungen bis zum röntgenologischen Apex (B1 nach Strindberg) wurden in histologischen Nachuntersuchungen im Allgemeinen als überfüllt diagnostiziert.[28] Daher stellt jedes über den physiolgischen Apex hinausgesbrachte Wurzelfüllmaterial eine Überfüllung dar. |
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Den Grad der Überfüllung kann man mit der Klassifikation nach Strindberg in vier Gruppen einteilen[35]:
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4.3. Cytokompatibilität von Wurzelfüllmaterialien |
Wurzelfüllmaterialien zeigen bis zu einem gewissen Grad alle eine gewisse biologische Inkompatibilität. Silberstifte und Guttapercha-Points sind dabei weniger cytotoxisch, als verschiedene Sealer:[23] Diese kann man im wesentlichen in vier Gruppen einteilen: Glasionomerzemente (z.B. Endion®, KetacEndo®), Calciumhydroxidzemente (z.B. Sealapex®), Epoxidharzzemente (z.B. AH Plus®) und Zinkoxid-Eugenol-Zemente (z.B. Super-EBA®). Alle Gruppen zeigten in vitro cytotoxische Aktivität auf menschliche Fibroblasten. So verringerten sie z.B. den Proteingehalt der Kulturen im Vergleich zur Kontrolle (s. Abb. 61).[37] Vor allem aber die Zinkoxid-Eugenol-Zemente mit Formaldedhyd als Inhaltstoff (z.B. N2) zeigten sowohl cytotoxisches, mutagenes und karcinogenes Potential als auch systemische Effekte in vitro und in vivo. Zemente mit Epoxidharz oder Glasionomerzement zeigten ebenfalls ausgeprägte cytotoxische Effekte in vitro[22], im Implantationsversuch sowie im direkten Kontakt mit periapikalem Gewebe führten sie jedoch nur zu einer moderaten Entzündungsreaktion.[27] Schließlich konnte auch eine neurotoxische Wirkung aller Gruppen in vivo nachgewiesen werden.[26] |
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4.4. Pathologie |
Bei der Überinstrumentierung über den Apex und Überfüllung kommt es zunächst zu einer chemischen und mechanischen Traumatisierung des periapikalen Gewebes und je nach Menge des überpressten Materials zu akuten Schmerzen. Langfristig kommt es abhängig von der Menge und Cytotoxizität des Materials zu einer mehr oder weniger heftigen chronischen ostitischen Entzündung des periapikalen Gewebes mit oder ohne Beschwerden, bis der Überschuss des Wurzel-füllmaterials resorbiert oder durch Makrophagen abgebaut ist.[28] Gravierendere Komplikationen können sich aus einer transapikalen Überstopfung in den Sinus maxillaris oder durch die Implantation in den Mandibularkanal ergeben.[10] |
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In tierexperimentellen Studien an Ratten mit diversen Wurzelkanalfüllmaterialien konnte deren neurotoxische Wirkung näher untersucht werden: Dabei wurden die Wurzelfüllmaterialien AH26, Asphaline A, Amalgam, Calxyl, Chloropercha, Guttapercha, Kloroperka, Endomethason, Jodoformpaste, Grossman-Zement, Ledermixpaste und N2 im Bereich des M. masseter nach Eröffnen des Mandibularkanals auf den N. alveolaris inferior appliziert und atraumatisch verschlossen. Dabei kam es in der Regel zu einer partiellen oder vollständigen Entmyelinisierung der Nerven, gefolgt von Axonuntergängen, interaxonalen Ödemen sowie Ödemen in der Nervumgebung mit Nervkompression und schwellungsbedingten Vaskulationsstörungen. Dadurch zu Nekrosen und nach dem Abtransport des nekrotischen Gewebes zur narbigen Ausheilung.[26] Klinisch führt das Überpressen von Wurzelfüllmaterial in den Canalis mandibularis zu Schmerzen, Parästhesie oder Anästhesie im Innervationsbereich des N. mentalis auf der betroffenen Seite mit oder ohne Schwellung der Lippe. Schmerzen können spontan, intermittierend oder permanent auftreten oder in Verbindug mit dem Essen, Sprechen oder thermischen Reizen stehen.[34] Bei der Pathogenese der Sensibilitätsstörungen werden vor allem drei Mechanismen diskutiert: 1. Chemische Schädigung des N. alveolaris inf. durch neurotoxische Wirkung des Fremdmaterials 2. Mechanische Schädigung und Degeneration des Nerven aufgrund der Kompression des Füllmaterials im Canalis mandibularis 3. Direkte Schädigung des Nerven duch die Überinstrumentation bei der Aufbereitung.[21] |
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Im Seitzahnbereich des Oberkiefers besteht rein anatomisch eine enge Nachbarschaft der Apices mit der Kieferhöhle. Kommt es infolge einer Parodontitis apikalis zu einer Osteolyse des dünnen Kieferhöhlenbodens, entsteht eine direkte Verbindung des betroffenen Apex und der Kieferhöhle und bei einer Überfüllung kann das überschüssige Material dann leicht in das Lumen der Kieferhöhle gelangen[5] und dort die, bei nicht immunsuppremierten Patienten relativ selten vorkommende, nicht-invasive Kieferhöhlen-Aspergillose begünstigen.[2] Aspergillus gehört zur Klasse der Pilze und kommt in der Umwelt relativ häufig vor. Von den ca. 900 beschriebenen Arten sind nur wenige pathogen: A. fumigatus, A. flavus, A. niger und A. terreus. Vor allem A. fumigatus steht im Zusammenhang mit Infektionen der Nasennebenhöhlen und fand sich bei bis zu 10% der wegen chronischer Sinusitis operierten Patienten. Ein Großteil dieser Aspergillus-Infektionen steht im Zusammenhang mit überpresstem Wurzelfüllmaterial im Sinus maxillaris.[16][2] Dabei soll das Aspergillus-Wachstum offenbar durch zinkoxidhaltige Wurzelfüllmaterialien begünstigt werden.[2] Radiodiagnostisch im Orthopantomogramm oder der NNH-Aufnahme finden sich bei der Kieferhöhlen-Aspergillose ein bis mehrere rund bis ovale röntgenopake Objekte in einer homogen verschatteten oder klaren Kieferhöhle. Klinisch entsteht häufig das Bild einer chronischen Sinusitis. Wird der Fremdkörper entfernt, zeigt sich eine gelbliche Masse mit makroskopichen Spuren einer Pilzbesiedelung. Histologisch findet sich eine Aspergillose um den Wurzelfüllzement im Zentrum und eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Verkalkung.[16] |
4.5. Klinische Prognose von Zähnen mit überfüllten Wurzelkanälen |
Eine Instrumentierung über den Apex und Überfüllung von Wurzelfüllmaterial ins periapikale Gewebe reduziert im Allgemeinen die Erfolgschance der Behandlung deutlich.[3] Allerdings hängt dies maßgeblich von der Menge des überpressten Materials ab. Geringfügiges Überstopfen über den Apex ohne Eindringen von Material in den gesunden Knochen wird meist toleriert und vollständig oder teilweiser resobiert oder bindegwebig eingescheidet.[5] In einer retrospektiven Studie über überfüllte Kanäle mit Kloroperka waren 90% der kleineren Überfüllungen (B1 und B2) nach 10-17 Jahren vollständig resobiert, deutlich mehr als bei den größeren Überfüllungen C1(68%) und C2(45%). Insgesamt zeigten 97% eine Reduktion in ihrer Größe und nur 3% blieben unverändert. Prognostisch für den Erfolg der Wurzelkanalbehandlung ergab diese Studie allerdings mit Ausnahme der großen Überfüllungen (C2) keine signifikant schlechteren Ergebnisse als Zähne, die bis zum physiologischen Apex abgefüllt waren. Wichtigere Indikatoren für den Erfolg der Wurzelkanalbehandlung waren bakteriologische Aspekte. Vitalextirpationen hatten in der Regel bessere Erfolgschancen als devitale Zähne mit apikaler Aufhellung. [15] |
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Abb. 63 Fallbeispiele von Überfüllungen direkt nach der endodontischen Behandlung (oben) und bei rönt. Kontrolle nach 10-17 Jahren. Kleinere Überfüllungen (B2, C1) heilten komplett aus, Größere Überfüllungen (C2) zeigte deutliche Größenreduktion und Ausheilend der apikalen Aufhellung.[15] |
4.6. Therapie und Prävention von Überfüllungen |
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4.7. Zusammenfassung |
Überfülltes Wurzelfüllmaterial und apikale Überinstrumentierung haben immer eine, mehr oder weniger starke, Traumatisierung des beteiligten Gewebes zur Folge. Besonders gravierend sind vor allem das Überpressen des Wurzelfüllzementes in den Canalis mandibularis oder in den Sinus maxillaris, sowie große Überfüllungen ins periapikale Knochengewebe. Die peri- oder intraneurale Inokulation ist ein Notfall und erfordert eine möglichst schnelle chirurgische Intervention, um bleibende Sensibilitätsausfälle zu vermeiden. Auch Wurzelfüllmaterial in der Kieferhöhle sollte wegen der Gefahr einer Aspergillose chirurgisch entfernt werden. Kleinere Überfüllungen ohne klinische Symptome heilen meist aus und können in der Regel belassen werden, während bei Beschwerden oder größeren Überfüllungen mit osteolytischen Prozessen die operative Entfernung indiziert ist. Im vorliegenden Patientenfall handelt es sich um eine Überfüllung der Klasse C2 nach Strindberg in der Größe von 2-3mm und Zeichen einer apikalen Aufhellung. Nach der endodontischen Revision des Zahnes war die Patientin aber beschwerdefrei. Acht Monate später zeigten die Röntgenbefunde (s. Abb. 65) eine leichte Abnahme der apikalen Radioluzenz und eine beginnende Reossifikation, allerdings noch keine wesentliche Resorption des überfüllten Wurzelfüllmaterials. |
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Daher bestand nur eine relative Indikation zur chirurgischen Intervention im Sinne einer apikalen Kürrettage und die Patientin entschloss sich, nach eingehender Aufklärung und Besprechung der Behandlungsalternativen, gegen einen operativen Eingriff. Überfülltes Wurzelkanalfüllmaterial ist biologisch nicht inert und führt im Gewebe immer zu einer Fremdkörperreaktion. Besonders Präparate mit Formaldehyd als Inhaltstoff haben sich als besonders cytotoxisch erwiesen. Daher sollte das Überpressen von Material über den physiologischen Apex hinaus, nach Möglichkeit vermieden werden. Dies gelingt durch eine sorgfältige Arbeitslängen-bestimmung und röntgenologischer Kontrolle sowie einer konischen Kanalaufbereitung mit apikalem Stop und einer Abfüllmethodik (z.B. laterale Kondensationstechnik), die eine ausreichende Längenkontrolle ermöglicht. |